Wer Livius liest,
darf nicht nur mit den Augen und dem
Verstand lesen, er muss sich in die Ereignisse hineinversetzen, die der
Geschichtsschreiber schildert, und muss den Pulsschlag dieses von
tiefem
Glauben an die Kraft des Römertums erfüllten Mannes
fühlen, der sich der
Aufgabe gewidmet hat, die guten Geister wieder zu wecken, die frei von
Parteienrücksichten, aber auch unbeschwert von
staatsmännischen und politischen
Erfahrungen zwar kein großer Geschichtsforscher, aber in seiner
Art ein großer
Mensch und Künstler gewesen ist.
In dem Livianischen Werk spiegelt sich die geistige und
sittliche Bewegung der Augusteischen Zeit wieder. Was Vergil in seinem
großen
Epos wollte, das gilt parallel für das große prosaische
Geschichtswerk des
Livius. Nicht die bequeme Hingabe an den Glauben eines dauernden
Friedens lebt
in ihm, so wenig wie in Vergil und Horaz, sondern der Wunsch, die
Kräfte der
Vergangenheit zu wecken und zu stärken, um sie für die
Gegenwart und die
Zukunft wirksam zu machen. In 142 Büchern hat Livius die
Geschichte der Stadt
von ihrer Gründung (ab urbe condita) bis zu dem Tode des Drusus (9
v.Chr.)
geschrieben, und die Annahme liegt nahe, dass er in 150 Büchern
seine
Geschichte bis zu dem Todes des Augustus (14 n.Chr.)
weiterzuführen gedachte,
dass aber der Tod den Abschluss des monumentalen Werkes vereitelt hat.
Eine
ungeheure Arbeit hat Livius mit diesem Werk geleistet, das er zwischen
den
Jahren 29 und 25 v.Chr. begann, um jedes Jahr zuerst drei, später
noch mehr
Bücher fertig zu stellen, die er dann zu einzelnen Gruppen
zusammenfasste. Es
ist ein unersetzlicher Verlust, dass nur ein Bruchteil des Werkes
erhalten
geblieben ist. Wir besitzen nur Buch I-X (von der Gründung der
Stadt bis 293)
und Buch XXI-XLVI (vom Beginn des 2. Punischen Krieges bis 167 v.
Chr.), wobei
die dritte Dekade den 2. Punischen Krieg enthält.
CD: Livius, Die
Belagerung
von Sagunt
Vom Beginn dieses
Krieges, des „denkwürdigsten aller
Kriege, die je geführt worden sind“, wie der Autor meint,
handelt der Text des
Werkes, das wir für unser Livius-Hörbuch ausgewählt
haben.
Nach
einer Einleitung, in der er den einzigartigen Charakter dieses Krieges
hervorhebt, kommt Livius auf die Feldherrn der Karthager zu sprechen:
auf
Hamilkar und seinen Sohn, der die Römer das Fürchten lehren
sollte: Hannibal.
„Nie
ist die gleiche Veranlagung für die Betätigung der zwei
verschiedensten
Forderungen geschickter gewesen: für Gehorchen und für
Befehlen. Man hätte
daher nicht leicht unterscheiden können, ob er sich bei den
Oberfeldherrn oder
bei dem Heer größerer Beliebtheit erfreute. ...Ein
höchstes Maß von Klugheit
bewies er, wo es galt, Gefahren aufzusuchen, ein höchstes
Maß von Besonnenheit,
wenn er sich mitten in den Gefahren befand. Keine Anstrengung konnte
ihn
körperlich erschöpfen oder ihn in seiner innerlichen Haltung
bezwingen. Hitze
und Kälte ertrug er gleichermaßen. Das Maß von Essen
und Trinken bestimmte bei
ihm das natürliche Bedürfnis, nicht der sinnliche Genuss. Die
Zeiten des
Wachseins und des Schlafens waren weder durch den Tag noch durch die
Nacht
geschieden. Nur so viel Zeit war dem Ausruhen gegönnt, als von
seiner
dienstlichen Tätigkeit nicht beansprucht wurde. Und dieser Ruhe
gab er sich
nicht auf einem weichen Lager hin, noch benötigte er für sie
Stille. Viele
erblickten ihn oft, nur mit einem Soldatenmantel bedeckt, auf dem Boden
zwischen den Posten und Feldwachen liegend. In seiner Kleidung hob er
sich in
keiner Weise von seinen Altersgenossen ab; nur seine Rüstung und
sein Pferd
fielen in die Augen. Unter der Reiterei wie unter dem Fußvolk
nahm er den
weitaus ersten Platz ein: Als erster zog er in den Kampf, und hatte
sich einmal
die Schlacht entsponnen, so verließ er als letzter den Kampfplatz.
Diese so umfassenden
Vorzüge wurden durch
ungeheuerliche Laster aufgewogen: unmenschliche Grausamkeit, mehr als
punische
Perfidie, völlige Negierung des Wahren und Heiligen, keine Furcht
vor Göttern,
Nichteinhaltung von Eiden, keine Beachtung des Göttlichen...“
Die
Belagerung Sagunts durch die Karthager unter
Hannibal fand 218 v.Chr.
statt und führte zum Zweiten Punischen Krieg.
Nachdem Hannibal das Oberkommando über
Spanien bekommen
hatte (221 v.Chr.), verbrachte er zwei Jahre damit, um seine Pläne
reifen zu
lassen und seine Vorbereitungen zur Sicherung seiner Macht im
Mittelmeerraum
abzuschließen. Die Römer unternahmen nichts dagegen, obwohl
sie durch die
Truppenbewegungen Hannibals deutlich gewarnt worden waren. Sie mussten
den Mann
erst noch kennenlernen, mit dem sie es zu tun hatten. Sie dachten, sie
könnten
diesen jungen Karthager schlagen, wann immer es ihnen gefiehle, und so
unternahmen sie keine besonderen Anstrengungen. Sie gingen sogar
soweit, dass
sie Hannibal ignorierten, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die Illyrer
richteten, die mit einem Aufstand begonnen hatten. Die Römer
reagierten nicht
einmal, als sie die Nachricht erreichte, dass Hannibal Sagunt im
Südosten
Spaniens belagerte...
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